Buchhandlung Herder

Lesetagebuch

Was wir lesen, was wir schmökern... in loser Folge, zum Durchstöbern, Ideen sammeln, sich inspirieren lassen...




Der will nur spielen

Gerade entdeckt: Sehr schöne Zeilen von Manuel Rubey über das Lesen: „Ich finde ja, dass es nichts gibt, was besser hilft, sich mit unserer Existenz zu versöhnen, als zu lesen. … Bücher zeigen uns, wie beschränkt unsere Sicht auf die Welt ist. Sie widersprechen unserer Sicht auf die Welt, weil sie uns andere Perspektiven zeigen. Ganz im Gegensatz zu den Filterblasen im Internet, die uns immer nur Gleichgesinntes in die Timeline spülen. Die Bücher in meinem Regal erzählen hunderte von Geschichten und jede hat mich demütiger gemacht, weil sie mir eine neue Sichtweise eröffnet hat. Wenn man liest, ist ein unsichtbarer Geist im Raum. Lesen ist wie Zuhören. Beides bringt Menschen dazu, aufeinander zuzugehen. … Ich höre immer wieder, dass Menschen sagen, sie würden so traurig werden beim Lesen. Das kann ich nachvollziehen, aber ich fürchte, dass es darum auch geht. Warum also soll ich es mir dann antun? Weil gute Literatur für das Menschliche Partei ergreift, weil man nicht Ein wenig Leben von Hanya Yanagihara lesen kann, ohne dabei bitterlich zu weinen. Dennoch führt uns gute Literatur immer näher heran an den Kern dessen, um den sich alles dreht.“

(S. 71-72 in: Der will nur spielen)

Maksym

Dirks Frau geht beruflich nach New York, deshalb muss endlich ein/eine BabysitterIn her…Während Dirk von Frauen mit den Maßen 90-60-90 träumt, sieht die Realität anders aus, denn der Ukrainer „Maksym“ zieht ins Haus! Fortan ist nichts mehr wie es war und „kein Stein bleibt auf dem Anderen“, denn mit Maksym ziehen auch neue Regeln ein. Ein wahnsinnig komischer Roman, an Wortwitz kaum zu überbieten! Seit langem nicht mehr so gut unterhalten worden!

Dirk Stermann: Maksym. Roman, Rowohlt 2022

Die Nacht unterm Schnee

Ralf Rothmann schreibt über eine vom Krieg traumatisierte Frau, die ihr Leben in den Griff zu bekommen versucht. Von erlittener Gewalt gezeichnet ist sie bemüht, am neuen Leben nach dem Krieg teilzunehmen. Sprachlich ist das Buch einfach großartig und es portraitiert die Nachkriegsjahre ganz hervorragend. Ich empfehle es, weil... es einen in atemlose Spannung versetzt. - ...es nachfühlen lässt, was die Generation unserer Eltern und Großeltern mitmachen musste und was möglicherweise auch uns mitgeprägt hat. - ...weil es nicht zuletzt durch das augenblickliche Geschehen in Europa erschreckend aktuell ist.

Ralf Rothmann: Die Nacht unterm Schnee. Roman, Suhrkamp 2022

Treue

Was für ein großartiger Roman, der irritiert, verblüfft und ganz viel Freude macht. Die Geschichte eines genialen Börsenmaklers in den 1920er Jahren, der den großen Crash (mit-)verursacht hat... aber war er wirklich ein Genie? Welche Rolle spielte die Frau an seiner Seite? Stilistisch brilliant und sehr unterhaltsam.

Hernan Diaz: Treue. Roman, Hanser Berlin 2022

Auf See

Weit draußen in der Ostsee wächst das Mädchen Yada, Tochter eines skrupellosen Tech-Investors, in einer geschützen und kontrollieren Welt auf. Von ihrer Vorgeschichte, von ihrer Mutter, die anscheinend psychisch krank gewesen sein soll, weiß sie nichts. Parallel erzählt Enzensberger die Geschichte von Yadas Mutter Helena, die am deutschen Festland lebt, in einer Gesellschaft, die irgendwann in der Zukunft liegt, und in einiges, was wir von unseren gegenwärtigen Zivilgesellschaften kennen, im Zerfall begriffen ist. Doch Yada spürt eine innere Unruhe und versucht herauszufinden, warum ihr Vater sie im goldenen Käfig hält. Ein ungewöhnlicher, anregender, manchmal etwas über-ambitionierter Roman: weniger Theorie und Diskurs, dafür mehr authentische Charaktere wären schön gewesen. Nichts desto trotz ein sehr lesenswertes Buch. Und das coolste Cover seit langem. :-)

Theresia Enzensberger: Auf See. Roman, Hanser 2022

Samson und Nadjeschda

Was für ein spannender und menschelnder Roman, der im Kiew des Jahres 1919, in den Wirren des Bürgerkrieges, spielt!

Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda, Diogenes 2022

Drei Uhr morgens

Gemeinsam mit seinem Vater, den er selten sieht und eigentlich kaum kennt, zieht der 17-jährige Antonio zwei Tage und Nächte durch Marseille. Weil Antonio eine medizinische Untersuchung durchmacht, muss er mehrere Tage und Nächte wachbleiben. Die Gelegenheit scheint gekommen, dass sein Vater und er sich endlich besser kennenlernen. - Ein Vater-Sohn Road-Trip und ein kleine Coming-of-Age-Story, die man in einem Zug durchlesen kann. Sprachlich sehr sorgfältig und voller treffender und überraschender Beobachtungen.

Gianrico Carofiglio: Drei Uhr morgens. Roman, Unionsverlag 2022

Athos 2643

Auf dem Neptunmond Athos im Jahr 2643: Der "Inquisitor" Rüd, zuständig für die Konfiguration großer Systeme Künstlicher Intelligenz, hat einen neuen, besonders kniffligen Fall zu lösen... In welcher Welt befinden wir uns? Alles menschliche Leben, das mittlerweile vollständig jenseits vom Planeten Erde stattfindet, wird von Künstlicher Intelligenz gesteuert und am Leben gehalten. Ein raffinierter (und philosophischer) Science-Fiction der uns in eine faszinierende Zukunftswelt zieht. Im Mittelpunkt steht außerdem die intensive Beziehung des Protagonisten zu seiner Begleiterin, die ebenfalls eine KI, also ein Computer ist, die aber zunehmend humane Merkmale auszubilden fähig ist: Gefühl, Freiheit, Liebe. Große Leseempfehlung!

Nils Westerboer: Athos 2643. Roman, Klett-Cotta 2022

Was bei uns bleibt

Klara hat ihr Leben lang über einen Teil ihrer Vergangenheit geschwiegen: sie begann 1944 mit ihrer Arbeit in der Munitionsfabrik in Hirtenberg, um ihren Beitrag zum Sieg zu leisten. Jetzt, als alte Frau, erkennt sie, dass sie aussprechen muss, was damals geschah. Sie erzählt von den Aufseherinnen, dem Lager, von der Freundschaft und den Schicksalen der Frauen und von den letzten Tagen des Krieges.

Didi Drobna: Was bei uns bleibt. Roman, Piper 2021

18/4 - Der Hauptmann und der Mörder

Auftakt einer atemberaubenden Thriller-Trilogie

Ein Bestseller-Erfolg aus China, der nüchtern und sachlich, aber mit hohem Tempo, Polizeiarbeit beschreibt: Die Suche nach einem hochintelligenten Serien-Killer, der allen immer mehrere Schritte voraus ist. Ohne Schnickschnack erzählt, dafür ein kluger Plot mit garantierter Hochspannung. Teil 2+3 kommen ebenfalls noch 2022 auf den Markt.

Zhou Haohui: 18/4 - Der Hauptmann und der Mörder, Heyne 2022


Unzertrennlich

Yrvin und Marilyn Yalom sind seit fast 65 Jahren verheiratet, als Marilyn eine Krebsdiagnose erhält. Sie beginnen damit, zusammen ein Buch zu schreiben, als klar wird, dass es für Marilyn keine Heilung mehr geben wird. Es entsteht ein berührendes Tagebuch, das Irvin nach Marilyns Tod alleine zu Ende bringt, ein Buch über den Tod und das Leben.

Irvin D. Yalom / Marilyn Yalom: Unzertrennlich. Über den Tod und das Leben, Btb 2021

Vernichten

Michel Houellebecqs neuer Roman ist für Fans sowieso ein Muss. Aber er sollte auch für alle anderen Pflichtlektüre sein. Der vielleicht letzte Roman des Meisters aus Frankreich bietet einerseits manches, was man von ihm schon gewohnt ist (hellsichtige Gesellschaftskritik, schlichte Erotik aus der Brille des Mannes, Frankreich vor moralischem Verfall…), aber auch Ungewohntes: Eine spannende Politthriller-Hintergrundstory, eine komplexe und dramatische Familiengeschichte, und eine gewisse Altersmilde, die dem Roman sehr gut getan hat. Es macht einfach Spaß, dem politischen Spitzenbeamten Paul Raison 600 Seiten lang auf der Suche nach dem, was wirklich zählt im Leben, zu folgen.

Michel Houellebecq: Vernichten. Roman, Dumon 2022

Die Enkelin

Berlin 1964 – ein Student aus dem Westen und eine Studentin aus dem Osten verlieben sich ineinander, er verhilft ihr zur Flucht. Nach ihrem Tod entdeckt der mittlerweile Siebzigjährige, dass sie damals eine Tochter im Osten zurückgelassen hat. Er macht sich auf die Suche nach ihr, findet sie und auch deren Tochter. Er, plötzlich Großvater, und sie, plötzlich Enkelin, leben in völlig unterschiedlichen Welten. Die Frage ist, ob und wie sie zueinander finden.

Bernhard Schlink: Die Enkelin. Roman, Diogenes 2021

Löwenherz

„Löwenherz“ ist der dritte Band der Familiengeschichte von Monika Helfer, in dem sie die Lebensgeschichte ihres Bruders erzählt. Er heißt Richard, ist Maler, Lebenskünstler und von klein auf ein „Luftikus“, der nicht viel spricht. Er ist ein liebenswürdiger Geschichtenerzähler und Schmähdandler, der in seiner eigenen Welt lebt. Ein warmherziges Porträt, in dem Dichtung und Wahrheit verschwimmen – sehr lesenswert!

Monika Helfer: Löwenherz. Roman, Hanser 2022

Der Erinnerungsfälscher

Said hat seinen Reisepass überall dabei, auch wenn er nur in den Supermarkt geht. Als er eines Tages die Nachricht erhält, seine Mutter liege im Sterben, reist er zum ersten Mal seit Jahren in das Land seiner Herkunft. Je näher er Bagdad und seiner verbliebenen Familie kommt, desto tiefer gehen die Erinnerungen zurück: an die Jahre des Ankommens in Deutschland, an die monatelange Flucht und schließlich an die Kindheit im Irak. Welche Erinnerungen fehlen, welche sind erfunden und welche verfälscht? Khider erzählt eine Lebensgeschichte und gleichzeitig ein universelles Thema überzeugend, ernst und gewitzt. Ein schmales, aber "großes" Buch.

Abbas Khider: Der Erinnerungsfälscher. Roman, Hanser 2022

In fremden Händen

Psychologisch, atmosphärisch und unendlich traurig: Als die neunjährige Tochter von Jon und Estelle bei einem Schulausflug in Paris verschwindet, ändert sich das Leben des jungen Ehepaares schlagartig. Die Ungewissheit, das Hoffen und Bangen, die Verzweiflung und Trauer sowie die Resignation - all das hat Einfluss auf die Partnerschaft. Ganz langsam, ruhig und aus der Distanz, wird man zur BeobachterIn, wie zwei Menschen sich immer weiter voneinander entfernen.

Michael Farris Smith: In fremden Händen, Ars Vivendi 2021