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ausgeklammert

Die Philosophinnen der Frankfurter Schule – eine unerhörte Geschichte | Henriette Hufgard; Kristina Steimer

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2023 Goldmann Verlag
304 Seiten; mit 8 s/w-Abbildungen
ISBN: 978-3-641-30359-4

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Kurztext / Annotation
»Es ist Zeit für ein neues Kapitel in der Geschichte der Philosophie: die weibliche Frankfurter Schule.«
Philosophinnen unterliegen fast traditionsgemäß einem doppelten Ausschluss: Die denkende weibliche Person wurde über Jahrhunderte marginalisiert, oft abgewertet, von der Philosophiegeschichte schließlich regelrecht verdrängt. Selbst die wirkmächtige philosophische Schule der Kritischen Theorie, die beginnend im 20. Jahrhundert über die Verstrickung von Gesellschaft, Wirtschaft und Mensch nachdenkt und sich überall da einbringt, wo es um Freiheit, Liebe, Gerechtigkeit und Selbstbestimmung geht, hat ihre Philosophinnen außen vor gelassen. Schlägt man in gängigen Lexika nach, folgt eine lange Liste von Namen der wichtigsten Protagonisten: Adorno, Horkheimer, Habermas, Benjamin und Co. Alle bekannt, alles Männer. »Einfach unerhört!«, finden die Philosophinnen Kristina Steimer und Henriette Hufgard. In ihrem Debüt begeben sie sich auf die Suche nach den Frauen der Frankfurter Schule und sprechen mit einigen persönlich: Gertrud Nunner-Winkler, Frigga Haug, Eva von Redecker und Karin Stögner. Sie stellen ihre Viten und Forschungen in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen, erforschen, woher die frauenfeindliche Haltung der Philosophie rührt und wie sie mit unserer Gesellschaft zusammenhängt. Sie zeigen auf, welche Hindernisse die Wissenschaftlerinnen überwinden mussten, und wenden deren Thesen auf den heutigen Diskurs um Gleichberechtigung an. Eine längst überfällige Sprengarbeit in Philosophie und Gesellschaft!

Henriette Hufgard ist Philosophin, Autorin und Künstlerin. Sie studierte an der Akademie der Bildenden Künste und der Hochschule für Philosophie in München. Derzeit schreibt sie an der Freien Universität Berlin ihre Doktorarbeit und untersucht, wie der Rationalismus mit dem Erstarken des europäischen Kolonialismus zeitlich zusammenfällt und welche Bedeutung dabei Bilder haben, die Europäer*innen in den Kolonien malten. Hufgard widmet sich diesen Fragen auch in literarischen Essays und ist seit 2021 Redaktionsmitglied des Literatur- und Kulturmagazins [kon]-paper.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Die Guten und die Gerechten - Vom Geschlechter-Zwiespalt der Moral

Prof. Dr. Gertrud Nunner-Winkler

Von Henriette Hufgard & Kristina Steimer

»16,50 Euro, bitte«, sagt der Taxifahrer und hält vor einer Hofeinfahrt. Das Haus, in dem Gertrud Nunner-Winkler lebt, steht in der kleinen Gemeinde Pullach bei München. Zwei der Orte, an denen Nunner-Winkler lange gearbeitet hat, befinden sich ganz in der Nähe: Über fünfunddreißig Jahre war sie an Max-Planck-Instituten in Starnberg und in München tätig - davon ein Jahrzehnt, von 1971 bis 1981, als wissenschaftliche Mitarbeiterin von Jürgen Habermas. Dieser ist Teil der zweiten Generation der Kritischen Theorie und gilt bis heute als bedeutende Figur innerhalb dieser philosophischen Richtung. Im Jahr 2001 erhält Nunner-Winkler, damals sechzigjährig, einen Professorinnentitel und eine Lehrerlaubnis von der Ludwig-Maximilians-Universität München, der LMU, während sie zugleich weiterhin am Max-Planck-Institut tätig war.

Was uns vor ihre Tür in Pullach im Isartal brachte, war jedoch nicht diese beeindruckende Karriere - die schon für sich genommen herausragend ist. Besonders, wenn man bedenkt, dass eine akademische Laufbahn für Frauen ihrer Generation - Nunner-Winkler ist 1941 geboren - in Deutschland fast noch unvorstellbar war. Es sind die Inhalte, mit denen sie sich auf ihrem langen Schaffensweg befasste: wie entwickelt sich bei Menschen die Motivation dafür, moralisch zu handeln - und wie wandeln sich die Moralvorstellungen selbst? Sie traf damit den Nerv der Zeit, denn sie verknüpfte das philosophische Thema Moral in ihrer soziologischen Forschung mit gesellschaftspolitischen und kulturellen Fragen nach Geschlechterrollen und Gender in einer Weise, die bis heute kaum an Virulenz verloren hat.

Wir klingeln. Gertrud Nunner-Winkler bittet uns sogleich an den Esstisch ihrer Wohnung. Dort liegt ein Stapel bleistiftbeschriebener DIN-A4-Blätter, daneben zwei Flaschen Wasser, drei Gläser und eine Vase mit rot-gelben Tulpen.

»Ich habe mal alles vom Tisch geräumt, damit wir Platz haben, aber dachte mir - Wasser brauchen wir schon!«, sagt sie und lächelt auffordernd. Das folgende dreistündige Gespräch beweist - nicht nur auf dem Tisch brauchten wir Platz: Die Themen, in die wir eintauchen, verlangen in ihrer Aktualität und Komplexität einen ebenso wachen wie weiten Geist.

Moral und Geschlecht: It's a match! Not

Wir befinden uns im Jahr 1982. Es ist das Jahr, in dem das erste in vitro gezeugte Baby geboren wird, Helmut Schmidt von der SPD wird durch ein konstruktives Misstrauensvotum als Bundeskanzler gestürzt und Helmut Kohl von der CDU zu seinem Nachfolger gewählt. In den Radios ersingt sich Nicole mit dem Lied Ein bißchen Frieden den Grand Prix Eurovision de la Chanson und E. T. - Der Außerirdische kommt mit durchschlagendem Erfolg in die Kinos. Vor allem aber ist es das Jahr, in dem sich eine hitzige feministische Debatte um die Moral entzündet. Eröffnet wurde diese von der US-amerikanischen Psychologin Carol Gilligan und ihrem Vorgesetzten Lawrence Kohlberg, Professor für Erziehungswissenschaften an der Harvard University School of Education. Und innerhalb kürzester Zeit knüpfte die Soziologin, Psychologin und kritische Theoretikerin Gertrud Nunner-Winkler daran an, ähnlich wie auch andere namhafte US-amerikanische Protagonist:innen wie die kritische Philosophin Seyla Benhabib. Auf dem Spiel stand nichts Geringeres als das Moralvermögen der halben Welt: die Moral der Frauen - eine 'weibliche Moral'?

Alles nahm seinen Anfang darin, dass Kohlberg ein Modell entworfen hatte, das die Entwicklung des moralischen Empfindens von Kindern und jungen Erwachsenen