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Große Erwartungen

Auf den Spuren des europäischen Traums (1999-2022) - Aktualisierte Ausgabe mit einem neuen Nachwort zum Ukraine-Krieg | Geert Mak

E-Book
2020 Siedler Verlag
640 Seiten
ISBN: 978-3-641-26328-7

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Kurztext / Annotation
Die brillante Chronik eines Kontinents: das neue Buch von Bestsellerautor Geert Mak. Ausgezeichnet als 'Das politische Buch 2022'
Von den Küsten Lampedusas bis zu den Schlachtfeldern der Ukraine, vom störrischen Katalonien bis zu den muslimischen Vororten Kopenhagens: Unser Kontinent ist zum Zerreißen gespannt. Was ist, dreißig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges, aus dem alten europäischen Traum - Frieden, Freiheit und Wohlstand - geworden, der immer mehr zum Albtraum wird? Geert Mak, der geniale Erzähler unter den Historikern unserer Zeit, schrieb 2005 mit seinem Buch »In Europa«, einen Klassiker. Wo aber stehen wir heute, knapp zwanzig Jahre später? Wie keinem Zweiten gelingt es Mak, in zahllosen Geschichten das fragile Wesen Europas zu ergründen. Und den Menschen dieses Kontinents eine Stimme zu verleihen.

Ausgezeichnet als 'Politisches Buch des Jahres 2022' der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Geert Mak, geboren 1946, ist einer der bekanntesten Publizisten der Niederlande und gehört nach drei großen Bestsellern zu den wichtigsten Sachbuchautoren des Landes. Zu seinen bekanntesten Veröffentlichungen zählen »Amsterdam« (1997), »Das Jahrhundert meines Vaters« (2003) und »In Europa« (2005). Zuletzt erschienen »Amerika! Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten« (2013) sowie »Die vielen Leben des Jan Six« (2016). Für sein Werk erhielt Geert Mak 2008 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Seine Bücher sind internationale Bestseller und wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.



Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Prolog
2018
1

Aus der Luft sieht man eine braungraue Landschaft. Als hätte es auf dem Mond gerade einen Platzregen gegeben. Zernarbte Erde mit Tausenden Seen und Flüsschen. Sie erinnern an die Tümpel und Priele, die sich im Schlick abzeichnen, wenn das Meer sich zurückzieht, zweimal täglich, in Ewigkeit. Felsen und Flechten, tiefste Einöde.

Wir sind fast da. Ein einsamer Baum - leuchtend gelb zu Anfang des Winters. Ein grellrotes Haus. Plötzlich Fabrikgebäude, eine große Werft, eine Ansammlung von Läden und Wohnhäusern rings um einen Platz, ein paar Kräne, ein Hafen. Die Stadt. Vom Nordpolarmeer kehrt ein Trawler zurück, blau-schwarz, Königskrabben fängt man hier, riesige Schalentiere, begehrt bei den Luxusrestaurants Europas.

Der Abend naht, die Straßen sind still und leer, man hört nichts als den Wind. Nur im Rathaus brennt noch Licht und in dem großen, gelb gestrichenen russischen Konsulat mit den vergitterten Fenstern. Im Restaurant gibt es Walsteak oder Nudeln mit Rentierfleisch und Pilzen. Vor dem Eisenwarenladen am Kai steht noch die komplette Auslage, drei triefende Aluminiumleitern, kurz, lang und mittellang. Im kleinen Supermarkt besprechen zwei junge Frauen ausführlich, was sie nehmen sollen: Milchshake oder einen moderneren Drink? Heute ist ihr wöchentlicher Ausflug.

In wenigen Minuten wird das Tor an der Grenze, ein paar Kilometer von hier entfernt, für heute geschlossen. Der Soldat auf dieser Seite wird den beiden auf der anderen die Hand schütteln, wobei er höchstens 30 Zentimeter auf das fremde Territorium vordringen darf; das Ritual ist streng geregelt, um Zwischenfälle auszuschließen.

Morgen ist wieder ein Tag.

Was ich jetzt am Anfang brauche, ist Abstand. Räumlicher Abstand, aber auch zeitlicher - soweit möglich. Es hat ja etwas Widersprüchliches, die Geschichte eines Zeitabschnitts, einer Welt, deren Teil man ist, zu schreiben, während man selbst mittendrin steckt. Geschichtsschreibung ist auf Abstand angewiesen, Zeit vergehen zu lassen ist immer noch die beste Art, Überblick zu gewinnen. Eine Gestalt wie Napoleon hat erst nach Jahrzehnten ihren Platz in der europäischen Geschichte des 19. Jahrhunderts gefunden. Bis heute wird über die tieferen Ursachen der beiden großen Kriege des 20. Jahrhunderts diskutiert, über das Wesen und die Folgen des Kolonialismus, die eingefrorene Gewalt des Kalten Krieges, den Zusammenbruch des Sowjetimperiums im Jahr 1989. Und hier geht es nun um unsere Zeit, um diese ersten beiden Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts, in denen die Geschichtsfabrik wieder auf Hochtouren produziert und unsere geordnete europäische Welt des Friedens und verdienten Wohlstands erneut ins Wanken zu geraten scheint.

Vor knapp zwei Jahrzehnten habe ich ein Buch über Europa im 20. Jahrhundert geschrieben; damals habe ich im Jahr 1999 aufgehört. Es schreit geradezu nach einer Fortsetzung: Was ist beim turbulenten Start ins 21. Jahrhundert mit der europäischen Welt geschehen? Wie gern würde ich der klugen Geschichtsstudentin über die Schulter blicken, die im Jahr 2069, ein halbes Jahrhundert später, über unsere Zeit schreiben darf. Eine besonders erfreuliche Lektüre wird es nicht sein, fürchte ich, aber auf jeden Fall eine interessante. Sowohl die Vereinigten Staaten von Amerika als auch, später, die Europäische Union konnte man schließlich als große historische Projekte betrachten, als Projekte, mit denen freie Bürger den Verlauf der Geschichte selbst zu bestimmen versuchten, statt ihn passiv zu erdulden, als Projekte außerdem, deren Ursprünge in den Idealen der Aufklärung lagen, in der Idee der Menschenrechte, der Idee von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit - auch internationaler Brüderlichkeit. Wie ist der Niedergang von etwas so Schönem zu erklären?

Meine junge Historikerin hat dank des zeitlichen Abstands einen guten Überblick. Ich nicht. Ich beneide sie.

2

Hier, am nördlich