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Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik

Platz 1 der Sachbuchbestenliste der WELT | Jürgen Habermas

E-Book
2022 Suhrkamp Verlag
Auflage: 1. Auflage
108 Seiten
ISBN: 978-3-518-77413-7

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Kurztext / Annotation

1962 erschien Strukturwandel der Öffentlichkeit, Jürgen Habermas' erstes Buch. In sozialhistorischer und begriffsgeschichtlicher Perspektive profiliert er darin einen Begriff von Öffentlichkeit, der dieser einen Platz zwischen Zivilgesellschaft und politischem System zuweist. Der Strukturwandel reihte sich alsbald ein unter die großen Klassiker der Soziologie des 20. Jahrhunderts und hat eine breite Forschung in den Geschichts- und Sozialwissenschaften angeregt. Und auch Habermas selbst hat sich in späteren Arbeiten immer wieder mit der Rolle der Öffentlichkeit für die Bestandssicherung des demokratischen Gemeinwesens beschäftigt. Angesichts einer durch die Digitalisierung veränderten Medienstruktur und der Krise der Demokratie kehrt er nun erneut zu diesem Thema zurück.

Kernstück des Buches ist ein Essay, in dem er sich ausführlich mit den neuen Medien und ihrem Plattformcharakter beschäftigt, die traditionelle Massenmedien - maßgebliche Antreiber des »alten« Strukturwandels - zunehmend in den Hintergrund drängen. Fluchtpunkt seiner Überlegungen ist die Vermutung, dass die neuen Formen der Kommunikation die Selbstwahrnehmung der politischen Öffentlichkeit als solcher beschädigen. Das wäre ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit, mit gravierenden Konsequenzen für den deliberativen Prozess demokratischer Meinungs- und Willensbildung.



Jürgen Habermas wurde am 18. Juni 1929 in Düsseldorf geboren. Von 1949 bis 1954 studierte er in Göttingen, Zürich und Bonn die Fächer Philosophie, Geschichte, Psychologie, Deutsche Literatur und Ökonomie. Er lehrte unter anderem an den Universitäten Heidelberg und Frankfurt am Main sowie der University of California in Berkeley und war Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg. Jürgen Habermas erhielt zahlreiche Ehrendoktorwürden und Preise, darunter den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (2001) und den Kyoto-Preis (2004).



Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

1

Bei Arbeiten, die die Rolle der politischen Öffentlichkeit im demokratischen Verfassungsstaat behandeln, unterscheiden wir normalerweise zwischen empirischen Untersuchungen und normativen Theorien - John Rawls spricht von »idealer Theorie«. Ich halte das für eine übervereinfachte Alternative. Aus meiner Sicht soll die Demokratietheorie den vernünftigen Gehalt der Normen und Praktiken, die seit den Verfassungsrevolutionen des späten 18. Jahrhunderts positive Geltung erlangt haben und insofern Teil der historischen Wirklichkeit geworden sind, rational rekonstruieren. Allein die Tatsache, dass empirische Untersuchungen demokratischer Meinungsbildungsprozesse ihren Witz verlieren, wenn sie nicht auch im Lichte jener normativen Erfordernisse interpretiert werden, denen sie in demokratischen Verfassungsstaaten genügen sollen, macht auf einen interessanten Umstand aufmerksam. Dazu bedarf es freilich eines kurzen historischen Exkurses, denn erst mit jenen revolutionären Akten, die Grundrechten positive Geltung verschafft haben, ist ein neues normatives Gefälle in das Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger und damit in die gesellschaftliche Realität selbst eingezogen.

13Das Neue an der historischen Tatsache dieser eigentümlich steilen, weil »ungesättigt« über den Status quo hinausweisenden Normativität grundrechtlich fundierter Verfassungsordnungen lässt sich besser vor dem Hintergrund der üblichen gesellschaftlichen Normativität verstehen. Soziale Phänomene haben, ob es sich nun um Handlungen, Kommunikationsflüsse oder Artefakte, um Werte oder Normen, Gewohnheiten oder Institutionen, Verträge oder Organisationen handelt, einen regelhaften Charakter. Dieser zeigt sich an der Möglichkeit abweichenden Verhaltens - Regeln können befolgt oder verletzt werden. Nun gibt es verschiedene Sorten von Regeln: logische, mathematische, grammatische Regeln, Spielregeln und sowohl instrumentelle als auch soziale Handlungsregeln, die sich wiederum nach strategischen und normativ regulierten Interaktionen unterscheiden lassen. Diese zuletzt genannten Normen sind es, die sich durch den eigentümlichen Geltungsmodus des Sollens auszeichnen.[8]  Solche normativen Verhaltenserwartungen können, was sich an der Art der Sanktionen für abweichendes Verhalten zeigt, mehr oder weniger strikte Forderungen stellen, wobei die Moral die strengsten Forderungen erhebt. Die mit den achsenzeitlichen Weltbildern auftretenden universalistischen Moralen zeichnen sich dadurch aus, dass sie grundsätzlich die Gleichbehandlung aller Personen verlangen. Im Laufe der europäischen Aufklärung hat sich dieses moralkognitive Potential sodann 14von dem jeweiligen religiösen oder weltanschaulichen Hintergrund gelöst und so ausdifferenziert, dass - gemäß dem heute immer noch maßgeblichen Kantischen Tenor - jeder und jede Einzelne in seiner und ihrer unveräußerlichen Individualität die gleiche Achtung verdient und die gleiche Behandlung erfahren soll. Nach diesem Verständnis muss das Verhalten jeder Person in Berücksichtigung ihrer individuellen Lage nach genau den allgemeinen Normen beurteilt werden, die - aus der diskursiv geprüften Sicht aller möglicherweise Betroffenen - gleichermaßen gut sind für alle.

In unserem Zusammenhang interessiert eine bestimmte soziologische Konsequenz dieser Entwicklung: Man muss sich die unerhörte Radikalität der Vernunftmoral in Erinnerung rufen, um die Fallhöhe des Sollensanspruchs dieses egalitär-individualistischen Universalismus zu ermessen und um dann, mit einem Blickwechsel von der Vernunftmoral zu dem von dieser Moral inspirierten Vernunftrecht, zu begreifen, was es historisch bedeutet hat,