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Theorie der BefreiungOverlay E-Book Reader

Theorie der Befreiung

Christoph Menke

E-Book
2022 Suhrkamp Verlag
Auflage: 1. Auflage
718 Seiten
ISBN: 978-3-518-77417-5

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€ 27,99

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Kurztext / Annotation

Wir leben in einer Zeit gescheiterter Befreiungen. Denn bei Lichte besehen, haben alle Befreiungsversuche früher oder später neue Formen der Herrschaft und damit der Knechtschaft hervorgebracht. Für Christoph Menke verlangt die Erklärung dieser Situation nach einer Umkehrung des Blicks. Anstatt uns einfach dem nächsten Befreiungsprojekt zuzuwenden, müssen wir analysieren, wie die bisherigen Befreiungsversuche verlaufen sind. Vor allem ihr Anfang ist dabei entscheidend - die gewöhnliche, aber faszinierende Erfahrung, dass eine Gewohnheit, die uns knechtet, plötzlich bricht. Sie zu bejahen heißt, in die Praxis der Befreiung einzutreten.



Christoph Menke, geboren 1958, ist Professor für Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

9Der Kampf der Befreiung

Leicht fanget aber sich
In der Kette, die
Es abgerissen, das Kälblein.
Friedrich Hölderlin1

Wir leben in einer Zeit gescheiterter Befreiungen. Alle Befreiungen, die die Moderne seit ihrem Beginn hervorgebracht hat, haben sich - früher oder später - ins Gegenteil verkehrt. Sie haben neue Zwänge, neue Ordnungen der Abhängigkeit und Knechtschaft hervorgebracht. Wir kennen die Diagnosen, ihre Liste ist lang: Die Befreiung von äußerer Herrschaft und Bevormundung hat zu Regimen der Selbstkontrolle und Selbstdisziplin geführt; die Befreiung unserer Bedürfnisse und Interessen aus den Grenzen, die ihnen durch Tradition und Sittlichkeit gezogen waren, hat sie der Verwertungslogik der kapitalistischen Ökonomie unterworfen; die Befreiung der Schwarzen hat die rassistische Ausbeutung in rechtlicher Form reproduziert; die Befreiung der Frauen hat sie in den ökonomischen Verwertungszusammenhang integriert; die Befreiung der Sexualität hat die Kampfzonen der Konkurrenz ausgeweitet; die Befreiung der Worte, Farben und Töne hat die Kunst dem Kalkül der Wirkung unterworfen. Alle Befreiungsversuche, ob politisch, ökonomisch, rechtlich, ethisch, kulturell oder künstlerisch, haben sich in Paradoxien und Widersprüche verfangen; sie haben neue Gestalten und Strategien der Herrschaft hervorgebracht. Mehr noch ist offensichtlich geworden, dass die Befreiung in Wahrheit immer schon der Rechtfertigung von Herrschaft diente. Die eigene Befreiung rechtfertigt, die anderen zu beherrschen - um sie da10durch zu befreien. Im Namen der Befreiung hat Europa seine Herrschaft über die Welt errichtet: den globalen Süden erobert und kolonialisiert, die alten Mächte des Ostens zur Öffnung ihrer Häfen und Grenzen gezwungen, die traditionellen Kulturen den Imperativen der Emanzipation unterworfen.

Dies bedeutet, dass die Befreiung nicht länger ein Versprechen und eine Hoffnung sein kann. Die Befreiung ist nicht die Zukunft, die erst noch kommen wird und kommen soll. Wenn die gegenwärtigen Formen von Herrschaft und Knechtschaft die Folgen gescheiterter Befreiungen sind, dann hat die Befreiung vielmehr schon stattgefunden. Die Befreiung ist unsere Vergangenheit. Daher müssen wir den Blick umwenden: Bevor wir wieder - und immer weiter - fordern und versuchen können, uns von bestehenden Formen der Knechtschaft und Unterdrückung zu befreien, müssen wir begreifen, wie dies bisher, in der Vergangenheit, unternommen worden ist. Bevor wir erneute Versuche der Befreiung entwerfen können, müssen wir zurückschauen: auf frühere Befreiungsversuche.

Darum geht es in diesem Buch: um eine Theorie der Befreiung im Rückblick; im Rückblick auf Geschichten von Befreiungen, die versucht worden und die gescheitert sind. Es geht darum zu verstehen, wie die Befreiung versucht wurde, warum sie gescheitert ist - und wie es vielleicht anders geht.

*

Wenn man zurückschaut, zeigt sich zuerst, wie unauflösbar Befreiung und Herrschaft ineinander verhakt sind. Jede Befreiungsbewegung, ob politisch, ökonomisch, rechtlich, ethisch, kulturell oder künstlerisch, kämpft gegen Verhältnis11se, die als knechtend und unterdrückend erfahren werden. Das treibt die Befreiung an und berechtigt sie; jeder Befreiungsversuch hat recht. Zugleich hat die Befreiung - so zeigt sich im Rückblick - neue Gestalten der Knechtschaft und Herrschaft hervorgebracht; das ist ihr Scheitern. Wie ist dieses Zugleich - die Befreiung bekämpft die Herrschaft und bringt sie erneut hervor - zu verstehen? Die Frage kann auf zwei ganz verschiedene Weisen beantwortet werden. Nach der ersten Antwort ist dies der Kreislauf, der den Lauf der Geschichte bestimmt. Auf jede befreiende Durchbrechung einer Ordnung folgt die Errichtung einer neuen, die wiederum befreiend durchbrochen werden wird, und so weiter; Ordnung un