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Vom Glück, unterwegs zu seinOverlay E-Book Reader

Vom Glück, unterwegs zu sein

Warum wir das Reisen lieben und brauchen | Christian Schüle

E-Book
2022 Siedler Verlag
256 Seiten
ISBN: 978-3-641-23731-8

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Kurztext / Annotation
Bis zu den Rändern der Welt auf der Suche nach uns selbst
Die Schönheit alter Pilgerwege in Norwegen oder unbeleuchteter Gassen in Kairo, die Leichtigkeit Sandalen tragender Bergführer in Guatemala oder in der Sonne Portugals dösender Hunde, bizarre Nächte in Blackpool oder Tokio: Christian Schüle, Philosoph, Reisender, Flaneur und Wanderer, verbindet persönliche Erlebnisse beim Erkunden der Welt mit Reflexionen darüber, wie und warum das Fremde und Ferne ein so vorzügliches Mittel ist, sich selbst zu erkennen und die Welt wie die Zeit anders zu erleben. Sein ebenso faszinierendes wie inspirierendes Buch ist literarischer Roadtrip und philosophische Suche nach dem Sinn des Reisens zugleich.

Christian Schüle, geboren 1970, ist Philosoph, freier Autor und Publizist. Er schrieb für National Geographic und GEO; seine Essays, Feuilletons und Reportagen erscheinen u. a. in ZEIT, mare, Deutschlandfunk und Bayerischer Rundfunk und wurden vielfach ausgezeichnet. Seit 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin. Er hat eine Reihe viel diskutierter und markanter Debattenbücher zu aktuellen Themen veröffentlicht, von »Deutschlandvermessung« bis zuletzt »In der Kampfzone: Deutschland zwischen Panik, Größenwahn und Selbstverzwergung«. Wenn er nicht in der Welt unterwegs ist, lebt er in Hamburg und München.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Jeder Quadratzentimeter Landmasse ist entdeckt, jeder Winkel Welt identifiziert, fast jede Nische Raum erkundet. Der Globus ist bis in seine letzte Dezimale ausgeleuchtet, die Ränder sind interpretiert, die Flächen genutzt, die Strukturen erforscht. Jede Idylle ist kartografiert, jede Ruine vermarktet, jeder Berg bestiegen. Jede Achse ist vermessen, jede Grotte entdeckt, jede Wüste durchquert. Von jeder Bucht gibt es ein Foto, jedes Hochplateau ist bestiegen, in jeden Vorort schwebt Google Earth per Mausklick ein. Wenig Welt ist noch unberührt. Eventagenturen beschwören immer grenzsprengendere Extremerlebnisse, vorgebuchte Komfortpakete für organisierte Abenteuer führen bequem in die entlegensten Erdwinkel; Reiseführer liefern auf vierhundert Seiten Tipps, Routen und Highlights nun auch für Äquatorialguinea, Kamtschatka und Kiribati, und das allgemeine Bedürfnis nach der ultimativ coolsten Megadestination hat zum Geschäftsmodell von Influencern geführt, die von anderen Influencern erspähte Orte hip machen, indem sie sie für hip erklären. Je polierter eine Story gepostet wird, desto schöngefärbter wird der entsprechende Ort als Einladung zur Inszenierung.

Bevor die coronaische Pandemie die Welt ins künstliche Koma versetzte, hatten Reiseveranstalter stets verlockendere Wechsel auf portionierte Exotik ausgestellt, hatten sich immer mehr Länder und Inseln den Verheißungen des organisierten Massentourismus unterworfen und im kurz hereinspringenden Besucher die einzig verbliebene volkswirtschaftliche Existenzgrundlage entdeckt. Vor lauter Massen wurde der Massentourismus zum Overtourism, die Berichte über einheimische Bürgerwehren gegen Besucherfluten häuften sich. Und wie immer auf dem unzähmbaren Markt einer Sehnsuchtserfüllungsindustrie förderte die Ausleuchtung der letztverbliebenen Räume mit dem Ziel ihrer Kommerzialisierbarkeit seit Jahren genau das Gegenteil zutage: das Bedürfnis nach dem Authentischen und Abgeschiedenen.

Zuhause, sagen wir in Deutschland, ist jeder Quadratmeter Lebenswelt durch Vorschriften, Vorgaben und Verordnungen vorbestimmt. Jeder Bedarf scheint identifiziert, jedem Bedürfnis wird eine Dienstleistung angepasst. Die Wohlstandssubjekte arbeitsteiliger Funktionsgesellschaften wachsen in zunehmend vorgefertigten Wirklichkeiten auf - in auserzählten, von Ordnungsämtern überwachten Habitaten und regulierten Koordinatensystemen durchkalkulierter Lebenswelten, deren standardisierte Abläufe ein von vornherein bereits zu Ende definiertes Dasein nahelegen. Oder etwa nicht? Auf der Reise aber erobert der Reisende sich Wissen, ohne es zu wissen. Im Müßiggang erarbeitet er sich Weltwissen, indem es ihm widerfährt. Müßiggang ist eine andere Art Arbeit: die Wiedereroberung der Wahrnehmung, die es zulässt, die vernachlässigte Beiläufigkeit zu adeln. »Bück dich nach Nebensächlichkeiten«, riet Peter Handke, der kluge Repetitor geschulter Empfindung, in aller Öffentlichkeit wem auch immer. Bei der Eroberung einer Nebensächlichkeit muss es sich ja nicht gleich, wie bei Goethe auf seiner Italienischen Reise, um die Wiedereroberung der eigenen Identität als Künstler handeln. Und doch ist jede Reise ein Vehikel zur wachsenden Weisheit. Unter der Hand reift eine Art Wissen heran, das sich nicht durch Anwendbarkeit bewähren und auszahlen muss. Erkenntnisse sind ja nur selten rein wissenschaftliche Angelegenheiten, sondern meist nachgereichte Bewusstseinsschübe als Ergebnis einer wirkmächtigen Erinnerung. Auf Reisen räumt der Reisende dem Original den Vorzug vor der Simulation ein. So ergibt sich unbewusst und ungewusst ein anderes Wissen - ein Wissen, das, hat es die Vorläufigkeit seines eigenen Entstehens aufgespürt, zur Weisheit werden kann, wenn der Druck der Zeit keine Rolle mehr spielt.

In meinem Fall geschah das zufällig vor einiger Zeit in Norditalien.

Erkenntnis von der Macht der Nostalgie

Einmal stand ich vor dem Hotel Villa