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1000 Jahre Freud und LeidOverlay E-Book Reader

1000 Jahre Freud und Leid

Erinnerungen | Ai Weiwei

E-Book
2021 Penguin Verlag; Crown
416 Seiten; mit vielen Abbildungen und Farbbildteil
ISBN: 978-3-641-16735-6

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Kurztext / Annotation
Einer der größten Künstler unserer Zeit erzählt sein Leben vor dem Hintergrund der Geschichte Chinas
Ai Weiwei gehört zu den bekanntesten Künstlern unserer Zeit. In »1000 Jahre Freud und Leid« schildert er erstmals seinen außerordentlichen künstlerischen Werdegang vor dem Hintergrund der Geschichte seiner Familie in China. Schon als Junge erlebte er die Verbannung und Demütigung seines Vaters Ai Qing, einst ein Vertrauter Maos und Chinas einflussreichster Dichter, der im Zuge der Kulturrevolution als »Rechtsabweichler« gebrandmarkt wurde. Diese Erfahrungen prägten Ai Weiweis Schaffen und seine politischen Überzeugungen. Er beschreibt die schwierige Entscheidung, seine Familie zu verlassen, um für ein Kunststudium in die USA zu gehen, wo er sich u. a. mit Allen Ginsberg anfreundete und künstlerische Inspiration fand. Offen erzählt er von seinem Aufstieg zu einem Star der internationalen Kunstwelt, der aufgrund seiner Menschenrechtsaktivitäten jedoch immer stärker ins Visier des chinesischen Regimes geriet, das ihn schließlich 2011 mehrere Monate inhaftierte. Die sehr persönlichen und vom Künstler selbst reich illustrierten Erinnerungen geben nicht nur einen fesselnden Einblick in Ai Weiweis Leben und Arbeiten, sie sind zugleich Mahnung, die Meinungsfreiheit immer wieder neu zu verteidigen.

Zeitgleich erscheint eine deutsche Ausgabe von Gedichten seines Vaters Ai Qing, »Schnee fällt auf Chinas Erde«, ISBN 978-3-328-60242-2.

Ai Weiwei, geboren 1957 in Peking, gehört zu den bekanntesten und bedeutendsten Künstlern der Gegenwart. Seinen internationalen Durchbruch erlebte er 2007 mit seiner Teilnahme an der Documenta 12. Der Menschenrechtsaktivist und Regimekritiker nahm 2015 nach der Aufhebung eines Reiseverbots eine Gastprofessur an der Akademie der Künste in Berlin an, wo er danach mehrere Jahre lebte. 2019 zog er mit seiner Familie nach Cambridge in England.



Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

kapitel 1
Durchsichtige Nacht

Gelächter steigt auf aus den Feldern.

Ein Trupp von Trinkern verlässt

das schlafende Dorf, hinein

in die verschlafene Steppe

gehen sie lärmend.

Nacht, durchsichtige Nacht!

Aus: »Durchsichtige Nacht«,
geschrieben von meinem Vater 1932
in einem Shanghaier Gefängnis

Ich wurde im Jahr 1957 geboren, acht Jahre nach der Gründung des »neuen Chinas«. Mein Vater war damals siebenundvierzig. Als ich noch klein war, sprach mein Vater selten über die Vergangenheit, weil alles in den dichten Nebel der vorherrschenden, politischen Darstellung gehüllt war und jede Erkundigung nach den Fakten das Risiko barg, einen so furchtbaren Rückschlag auszulösen, wie man ihn sich gar nicht ausmalen wollte. Um den Anforderungen der neuen Ordnung nachzukommen, erlitt das chinesische Volk ein Austrocknen des geistigen Lebens und den Verlust der Fähigkeit, Ereignisse so zu erzählen, wie sie wirklich geschehen waren.

Ein halbes Jahrhundert sollte vergehen, ehe ich anfing, darüber nachzudenken. Am 3. April 2011, als ich im Begriff war, vom Flughafen Beijing-Hauptstadt abzufliegen, fiel ein Schwarm Polizisten in Zivil über mich her, und für die nächsten einundachtzig Tage verschwand ich in einem schwarzen Loch. Während meiner Inhaftierung fing ich an, über die Vergangenheit nachzudenken: Ich dachte insbesondere an meinen Vater und versuchte mir vorzustellen, wie achtzig Jahre zuvor das Leben für ihn hinter den Gittern eines Gefängnisses der Nationalisten wohl gewesen sein mochte. Mir wurde klar, dass ich kaum etwas über seine Strapazen wusste, und ich hatte mich nie aktiv für seine Erlebnisse interessiert. In der Ära, in der ich aufwuchs, setzte uns die ideologische Indoktrinierung einem intensiven, alles durchdringenden Licht aus, das unsere Erinnerungen wie Schatten verschwinden ließ. Erinnerungen waren eine Last, und es war am besten, sich ihrer zu entledigen; schon bald verloren die Menschen nicht nur den Willen, sondern auch die Kraft, sich zu erinnern. Wenn gestern, heute und morgen zu einem ununterscheidbaren, trüben Fleck verschwimmen, dann ist Erinnerung - abgesehen davon, dass sie potenziell gefährlich ist - so gut wie bedeutungslos.

Viele meiner ersten Erinnerungen sind bruchstückhaft. Als ich ein kleiner Junge war, glich die Welt in meinen Augen einem geteilten Bildschirm. Auf der einen Hälfte stolzierten US-Imperialisten mit Smoking und Zylinder umher, liefen mit dem Stock in der Hand, gefolgt von ihren Jagdhunden: den Briten, Franzosen, Deutschen, Italienern und Japanern, zusammen mit den Reaktionären der Kuomintang, die sich auf Taiwan verschanzt hatten. Auf der anderen Hälfte standen Mao Zedong und die Sonnenblumen an seiner Seite - das heißt: die Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, die sich nach Unabhängigkeit und Befreiung von Kolonialismus und Imperialismus sehnten; wir waren diejenigen, die für Licht und Zukunft standen. Auf Propagandafotos wurde der vietnamesische Führer »Großvater« Ho Chi Minh von furchtlosen jungen Vietnamesen mit Bambushüten begleitet - ihre Gewehre waren auf US-Kriegsflugzeuge am Himmel gerichtet. Tag für Tag wurden uns die heldenhaften Geschichten ihrer Siege über die Yankee-Schurken eingebläut. Zwischen den beiden Hälften lag eine unüberbrückbare Kluft.

In jener Ära, die man der Information beraubt hatte, kamen persönliche Entscheidungen treibenden Wasserlinsen gleich, wurzellos und substanzlos. Die Erinnerung, die man zum Trocknen ausgewrungen hatte, bekam Risse und zerbrach, weil ihr die Nahrung individueller Interessen und Bindungen verweigert wurde: »Das Proletariat muss zuerst die ganze Menschheit befreien, bev