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Das Verbindende

Ein Essay über Religion | Michel Serres

E-Book
2021 Suhrkamp Verlag
Auflage: 1. Auflage
240 Seiten
ISBN: 978-3-518-77036-8

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Kurztext / Annotation
Agen 1945, Vincennes 2019: Die Angaben am Ende von Michel Serres? letztem Buch markieren die Eckdaten seines Lebenswegs und unterstreichen, wie lange er sich mit den darin verhandelten Fragen beschäftigt hat. Geboren als Sohn eines Flussschiffers in Südwestfrankreich, wurde Serres zunächst Seemann, später Philosoph an der Pariser Sorbonne und Mitglied der prestigereichen Académie française. Zeitlebens kreiste sein Denken um das Verbindende: Boten wie Hermes, den Schutzgott der Reisenden, Kommunikation und interdisziplinäre Zusammenarbeit.
Auch in diesem Versuch über die Religion, der Summe eines Gelehrtenlebens, steht das Verbindende im Vordergrund: Religion begreift Serres dabei als das, was Menschen horizontal miteinander und vertikal mit dem Jenseits oder dem Reich der Ideen verbindet. Auf das analytische Zeitalter der Trennungen, Zersetzungen und Zerstörungen, unter anderem der unseres Planeten, so das Vermächtnis des großen Universalgelehrten, folgt ein Zeitalter der Verbindungen. Wollen wir die großen Herausforderungen unserer Gegenwart meistern, müssen wir auf globaler Ebene kooperieren.

Michel Serres, geboren am 1. September 1930 in Agen, war ein französischer Mathematiker und Philosoph. Er absolvierte die École navale, um eine Laufbahn als Marineoffizier zu beginnen. Ab 1952 besuchte er die École normale supérieure, an der er 1955 seine Agrégation in Philosophie erhielt. Im folgenden Jahr trat er erneut in die Marine ein und fuhr jahrelang zur See. Serres war ab 1969 Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Sorbonne und wurde 1984 parallel zum Professor an der Stanford University ernannt. Ab 1990 war er außerdem einer der vierzig »Unsterblichen« der Académie française. 2012 erhielt Serres den »Meister-Eckhart-Preis« der Identity Foundation und der Universität zu Köln. Serres starb am 1. Juni 2019 in Vincennes.



Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

11I.
Hotspots, Scheitelpunkte
Vertikale Verbindung
13Das Verbindende. Erste Lesung:
Erde und Himmel

Seit ein wohlwollender Lehrer mich in das Geheimnis der Unbekannten X einweihte und mir dadurch die Abstraktion erschloss, seit er mich über ihre mitunter erstaunlichen praktischen Anwendungsmöglichkeiten aufklärte, glaube ich an die Existenz einer virtuellen, unsichtbaren, formalen Welt, die zudem denkbar vielschichtig ist - habe ich sie doch später in verwandelter Form nicht nur im Recht, in der Medizin oder den schönen Künsten wiedergefunden, sondern auch im privaten oder öffentlichen Leben. Nein, ich täusche mich, ich glaube nicht nur an sie, ich sehe sie, wie alle anderen auch, und ich bin in sie eingetaucht, ich habe einen Teil meines Lebens in ihr verbracht.

Ich beginne mit der Mathematik, da Köpfe, denen ihre erhabene Praxis fremd bleibt, die nicht mit ihr gerungen und ihre Unnahbarkeit, ihre freischwebende Abstraktion ebenso erfahren haben wie ihren ganz realen Nutzen, sich schwerer tun, jenes virtuelle Universum wahrzunehmen, das weit davon entfernt ist, sich unseren Gesetzen zu fügen. Nein, wir sind es, die seinen Gesetzen gehorchen, die wir denn auch weniger erfinden als vielmehr entdecken; und ohne sie würden uns die Gesetze dieser Welt, die sich auf wundersame Weise mit ihnen decken, auf immer verschlossen bleiben.

Was wären wir Menschen ohne diese Zweitwelt, die, so abwesend sie ist, unser Innerstes prägt, unsere Einbildungskraft beflügelt, unsere Wahrnehmung bereichert, unsere Beziehungen formt, Gruppen mobilisiert 14und uns mit ihrer sprichwörtlichen Effizienz das Dasein und die Arbeit weniger beschwerlich macht? Wären wir ohne sie überlebensfähig? Ist es am Ende das, was uns von unseren tierischen Geschwistern unterscheidet - dass wir uns ihrer bewusst sind und sie auf alle erdenklichen Weisen nutzen? Liegt in diesem Virtuellen, so filigran aufgefächert wie ein Farbspektrum, das Wesen oder die Stärke des Menschen beschlossen?

Seit unsere Vorfahren begannen, Tiere und Zeichen an Höhlenwände zu malen, seit sie die Darstellung erfanden, die Repräsentation, die - Dies ist kein Tier - die Differenz von Anwesenheit und Abwesenheit schon im Namen trägt, seit andere Ahnen, zum Beispiel auf der Schwäbischen Alb, im Jungpaläolithikum, vor vierzigtausend Jahren, einen Löwenmenschen schufen, den all die Fetischgötter mit zwei Körpern seiner Unwahrscheinlichkeit zum Trotz von den Ägyptern bis zu den Azteken immer wieder nachbilden sollten, seither also tat sich eine andere Welt auf, mythisch, abgekehrt, formal, imaginär, ästhetisch, symbolisch ... Ich weiß nicht, wie ich sie charakterisieren soll, aber sie ist jedenfalls verschieden von der, die Gegenstand unserer unmittelbaren Wahrnehmung ist und unseren Bemühungen trotzt. Und als die artikulierte Sprache auf den Plan trat, brachten ihre Bezeichnungen den Schnittpunkt zwischen dieser unserer Welt und einer sie transzendierenden Kategorienwelt zum Ausdruck.

Plastisch, geschmeidig, fließend, unbeständig, mitunter auch dicht und durchsichtig wie ein Diamant, nimmt diese andere Welt von Ort zu Ort vielfältige Gestalten mit ganz unterschiedlichen Geschichten an. 15Die meisten die Erde bevölkernden Arten legen über alle Breitengrade hinweg ein mehr oder weniger ähnliches Verhalten an den Tag, während sich unsere Kulturen, Sprachen, Konventionen oder Verträge binnen kürzester Distanzen und unter vergleichbaren klimatischen Bedingungen oft erheblich unterscheiden. Zudem entwickeln sie sich derart, dass auch aufeinanderfolgende Generationen ein und desselben Kollektivs sich oft nicht weniger als jene Nachbarn voneinander abheben. Die Kultur folgt der Natur in einer Art Exodarwinismus, der Mutationen und Selektionen rascher und mit größerer Anp