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Nachtfrauen

Roman | Das lange erwartete Buch der Erfolgsautorin von »Engel des Vergessens« | Nominiert für den Österreichischen Buchpreis 2023 | Maja Haderlap

E-Book
2023 Suhrkamp Verlag
Auflage: 1. Auflage
294 Seiten
ISBN: 978-3-518-77736-7

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Kurztext / Annotation

Aus dem Leben dreier Generationen von Frauen und ihrem Ringen um Autonomie

Als Mira ins Auto steigt, um sich auf den Weg nach Südkärnten zu machen, weiß sie, dass ihr schwierige Tage bevorstehen: Ihre alte Mutter muss auf den Auszug aus dem Haus vorbereitet werden, in dem sie vor Jahrzehnten als ungelernte Arbeiterin mit den damals noch kleinen Kindern Obdach gefunden hat. Tatsächlich verdichten sich im Lauf der folgenden Wochen die Erinnerungen an eine als traumatisch erlebte Kindheit, die vom frühen Tod des Vaters genauso belastet war wie von der rigiden patriarchalen Ordnung und den Dogmen der katholischen Kirche. Die alten, unaufgelösten Konflikte verschaffen sich neuen Raum, und Mira beginnt zu verstehen, dass sie von den lang beschwiegenen Lebensgeschichten ihrer Ahninnen befeuert werden: Tagelöhnerin die eine, die unter dramatischen Umständen ums Leben kam, Partisanin die andere, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr nach Kärnten zurückkehrte.

In eindringlichen Bildern erzählt Maja Haderlap in ihrem neuen Roman aus dem Leben dreier Generationen von Frauen, von ihren Verstrickungen in aufgezwungene und verinnerlichte Leitbilder und ihrem Ringen um Autonomie. Die Geschichte der Nachtfrauen ist eine der Verluste, des Schweigens und der Schuld, in der trotz allem die Nachsicht und der Respekt füreinander, vielleicht sogar die Liebe, nicht aufgegeben werden.



Maja Haderlap wurde in Bad Eisenkappel / ?elezna Kapla (Kärnten) geboren. Nach einem Studium der Theaterwissenschaft und Germanistik war sie Lehrbeauftragte an der Universität Klagenfurt und lange Jahre Chefdramaturgin am Stadttheater Klagenfurt. Sie veröffentlichte Lyrik in slowenischer Sprache, ehe sie für einen Auszug aus ihrem Romandebüt Engel des Vergessens 2011 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde. Weitere renommierte Preise folgten, wie der Max Frisch-Preis 2018 oder der Christine Lavant Preis 2021. Nachtfrauen ist ihr erstes Buch im Suhrkamp Verlag.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Immer noch spürte Mira Mutters abwartenden, verdutzten Blick, als sie das Mikrofon angeschlossen und den Rekorder eingeschaltet hatte. Anni schien zu überlegen, ob sie der Tochter überhaupt etwas aus ihrem Leben anvertrauen sollte. Ihre Stimme klang zunächst angespannt, fast ausdruckslos. Sie musste sich in der Haltung der Erzählenden erst einrichten. Nach der ersten halben Stunde hatte sie sich so weit in ihre Rolle gefunden, dass sie begann, in größeren Bögen zu erzählen. Dazwischen fiel sie in einen Predigerton, aber diese Passagen hatte Mira gestrichen, sie waren nur für sie bestimmt, für niemanden sonst.

Mira las hastig, die Sätze kamen ihr in der Übersetzung ungelenk vor, beim Abtippen hatte sie sich am meisten darüber geärgert, ständig das Wörterbuch bemühen zu müssen. Sie hatte das Gefühl, in mehreren Hinsichten zu übersetzen, aus dem Slowenischen ins Deutsche, aus dem ungeschulten Milieu ins Akademische. Dazwischen ging vieles verloren, einzelne Sätze, die sie verunsicherten, Sätze, die sie schlichtweg nicht verstehen und in keinen Zusammenhang bringen konnte.

Mira blieb an einer Passage hängen, in der Anni vom frühen Tod ihres Vaters Jaki erzählte, wie er zu einem Gespenst und seine Gestalt von Jahr zu Jahr blasser geworden war.

Vater sei damals, im Krieg, einberufen worden, von einem Tag auf den anderen war er für mich verschwunden, erzählte Anni. Im ersten Winter, den sie ohne ihn verbrachten, war so viel Schnee gefallen, dass sie nichts außer Schnee sehen konnte. Schnee auf Schnee, eine Welt aus undurchdringlichem Weiß. Sie sei jeden Tag zum Waldrand gestapft, von wo aus sie in den Graben hinunterblicken konnte. Sie habe auf Vater gewartet. Ich weiß noch, wie ich immer Wölkchen in die Luft geatmet habe. Es war so kalt, so kalt, dass der Atem gleich vereiste, erzählte Anni. Eines Abends sei ein schwarzer Mann auf dem Anger gestanden, eine schwarze Gestalt vor einem Haufen Schnee. Sein Rücken dampfte. Ich habe so eine Angst bekommen, dass ich in die Küche gerannt bin und mich unter dem Tisch versteckt habe. Nach einer Zeit sei der dunkle Mann mit der Mutter in die Küche gekommen, sie redeten, und sie hockte unter dem Tisch, mucksmäuschenstill. Dann musste ich husten, und Vater hat unter den Tisch geschaut. Was machst du da unten?, hat er gefragt, komm heraus. Sie sei daraufhin unter dem Tisch hervorgekrochen und habe Vater die Hand gegeben. Ich weiß noch heute, wie er mich aufgehoben und an sich gedrückt hat, das kann ich nicht vergessen. Anica, oj Anica, kaj si danes delala, hat er wiederholt und mich wieder auf den Boden gestellt. Ich habe mich an seinen Hosenbeinen festgehalten, erinnerte sich Anni. Seine Hose habe nach Stall und nach Schweiß gerochen, davor habe es ihr gegraust, dabei habe sie sich so gefreut, dass er zurückgekommen war, fuhr sie fort. In den folgenden Tagen habe er nur Schnee geschaufelt. Besonders gut könne sie sich erinnern, dass er in der kleinen Stube die Weidenkörbe, Holzrechen und Heugabeln repariert hatte. Für sie hatte er ein paar Holztiere geschnitzt, eine Kuh, einen Hasen, einen Vogel und einen Fisch. Sie habe die Tiere ins Bett mitgenommen und sie, bevor sie einschlief, fest an sich gedrückt. Ich habe geglaubt, wenn ich mit den Tieren rede, kann mich Vater hören, erinnerte sich Anni. Dann weiß ich nicht mehr, ob ich Vater je wiedergesehen habe. Komisch, fügte Anni hinzu, von meinem Vater ist nichts übrig geblieben, nur die Holztiere und ein paar Pfiffe, eine schwarze Gestalt im Schnee.

Welche Koinzidenz, dachte Mira. Mutter und ich haben beide früh unsere Väter verloren, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Es fiel ihr auch auf, dass sie wenig konkrete, fassbare Erinnerungen an Vater hatte, sie waren alle unter dem Druck des Unglücks zu Bruch gegangen. Mira konnte sich nicht einmal entsinnen, ob Vater ihr je ein Spielzeug geschenkt oder mit ihr gespielt hatte, ob er je an ihr Bett getreten war, um sie zuzudecken. Sie nährte i